Ich bin in einer Generation groß geworden, die schon früh gelernt hat, zu beurteilen und zu kritisieren. Eigenständige Individuen müssen heute klare Aussagen zu – einfach allem – abgeben können. Und wenn sie es nicht in Worte fassen, dann kommunizieren sie es doch wenigstens passiv, durch Kleidung, Auftreten, Vermeiden oder den Like auf Facebook.
Es ist wirklich wichtig, dass wir uns klar von Dingen distanzieren, die wir als schädlich ansehen. Sich eine Meinung über etwas zu bilden, hilft bei der Selbstreflektion und dem Verfolgen eines einheitlichen Lebensstils. Aber es gibt da eine Sache, die schon Jesus bei seinen Mitmenschen angekreidet hat (ja, er durfte verurteilen – wenn wir schon beim Thema sind – denn der ohne Sünde ist, darf den ersten Stein werfen, oder?). Der Stein sollte aber nicht verletzen, da bin ich mir ziemlich sicher, sondern zurechtrücken: Ihr sollt nicht übereinander richten!
Darin steckt der Kern: Richte nicht über andere Personen. Beurteile nicht ständig die Laune, den Erfolg, das Verhalten, die Masken der anderen. Ich habe gemerkt, wie anstrengend und zermürbend es sein kann, sich mit den Fehlern gerade der sehr nahestehenden Menschen auseinanderzusetzen. Auseinandersetzen, ja, oder sie zersetzen, auseinandernehmen, im Detail und mit der Lupe betrachten. Und dem anderen dann fein seziert aufzeigen.
Junge, steck mich nicht an!
Mein Bruder war diese Woche bei mir zu Besuch. Eine Sache, die ich an ihm – leider – oft sehr nervig fand: den Heuschnupfen. Taschentüchervorräte und -verschleiß, und bei den ohrenbetäubenden Schnaubern und tränenden Augen (okay, ich übertreibe) musste ich immer wieder denken: Junge, steck mich nicht an!
Dabei weiß ich, dass das Heuschnupfen ist und der ist eigentlich nicht ansteckend. Das Problem liegt außerhalb von meinem Bruder. Und ich sehe nur seine Reaktion. Nun ja, heute habe ich gemerkt, dass ich auch hin und wieder meinen Taschentuchvorrat anzapfe. Eigentlich vielleicht sogar täglich. Irgendwie ist mir das gar nicht aufgefallen und war für mich ganz normal. Aber Moment, wir haben Sommer, nicht wahr? Eigentlich auch fühlbar. Kaum hatte ich den Gedanken formuliert: „Na den Schnupfen hast du doch garantiert von deinem Bruder!“, kam mir die Erleuchtung – wie wäre es denn damit, in Erwägung zu ziehen, dass ich das selbe Problem wie er habe oder zumindest in abgeschwächter Form?
Das war für mich irgendwie ein Denkzettel. Nicht dass mich Schnupfen so wahnsinnig beschäftigt, aber die Fehlersuche und das Abschieben von Verantwortung auf andere – ja, die Suche nach dem Schuldigen – treibt der Mensch im Allgemeinen oft sehr weit. Dabei muss er, manchmal, gar nicht weit schauen, nämlich nur bis in sein Herz.